Manche unserer tiefsten Beziehungskonflikte haben ihre Wurzeln nicht im Hier und Jetzt – sondern in früheren, oft verdrängten Ereignissen unserer Herkunftsfamilie.
Ein Fall aus der systemischen Praxis – Wenn die Last des Urgroßvaters zwischen zwei Liebenden steht
In der systemischen Therapie begegnen wir immer wieder dem Phänomen, dass Menschen Gefühle und Verhaltensmuster in sich tragen, die nicht aus ihrer eigenen Biografie stammen. Sie übernehmen unbewusst Anteile aus dem Familiensystem – oft aus Loyalität, Liebe oder dem tiefen Wunsch, das System zu „vervollständigen“. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Geschichte von Tobias*.
Der Mann, der nicht Vater werden wollte
Tobias ist 38 Jahre alt und lebt seit mehreren Jahren mit seiner Partnerin Lena in einer stabilen Beziehung. Die beiden sind sich einig: Sie wollen eine Familie gründen. Und doch kommt es immer wieder zu Rückziehern, zu Angst und Blockade – auf Tobias’ Seite.
Er liebt Lena. Er wünscht sich eigentlich ein Kind. Aber sobald es konkret wird, spürt er diffuse Ängste:
„Was, wenn ich versage?“
„Was, wenn ich kein guter Vater bin?“
„Was, wenn ich nicht genug bin?“
Lena fühlt sich zurückgewiesen. Sie beginnt, an Tobias und der Beziehung zu zweifeln. “Warum zieht er sich zurück, wenn es ernst wird?"
Spurensuche in der Familiengeschichte
In der familiensystemischen Arbeit gehen wir solchen inneren Blockaden auf den Grund – nicht, indem wir sie „wegtherapieren“, sondern indem wir schauen: Woher könnte dieses Gefühl oder Verhalten ursprünglich stammen?
Intuitiv hatte ich den Eindruck, dass es bei Tobias nicht um seine Kindheit ging, doch als wir die Familiengeschichte weiter zurückverfolgen, stößt Tobias auf einen dunklen Schatten:
„Mein Großvater hat mal erwähnt, dass sein Vater ‚eine dunkle Geschichte‘ hatte – man sprach nie darüber.“
Bei genauerem Nachforschen zeigt sich: Tobias’ Urgroßvater Friedrich war während des Nationalsozialismus Mitglied der SS. Er war nachweislich an Gräueltaten im Osten beteiligt. Nach dem Krieg kehrte er heim, doch niemand sprach je über seine Vergangenheit. Die Familie schwieg. Sein Schicksal blieb unbenannt, seine Schuld verdrängt.
Die unbewusste Loyalität – Schuld, die weiterwirkt
Was hat das mit Tobias zu tun?
In der geistigen Aufstellung wird sichtbar: Tobias trägt – ohne es zu wissen – die Schuld seines Urgroßvaters. Nicht, weil er damit einverstanden wäre, sondern aus unbewusster Bindung. Die systemische Dynamik dahinter lautet:
„Lieber übernehme ich die Schuld, als ihn auszuschließen. "Dann gehört er dazu.“
Diese Form der übernommenen Schuld zeigt sich bei Tobias in Selbstzweifeln, innerer Hemmung und dem Gefühl, kein Recht auf ein erfülltes Leben zu haben – geschweige denn, selbst Vater zu werden. Es ist, als würde ein Teil in ihm sagen:
„Wer aus einer Täterlinie stammt, hat kein Recht, neues Leben weiterzugeben.“
Der Weg zur Lösung: Würdigung statt Verdrängung
In der Aufstellung stellen wir Friedrich, den Urgroßvater, sichtbar ins Feld. Tobias sieht ihn – nicht als Ankläger, sondern als Nachfahre. Und er sagt die Sätze, die heilsam wirken können:
„Ich sehe dich. Ich sehe, was du getan hast. Es war schwer. Ich habe kein Recht, es zu beurteilen. Das ist dein Schicksal – und ich lasse es bei dir, mit Liebe.“
Damit endet nicht das Gedenken – im Gegenteil. Es beginnt ein bewusster Umgang mit dem Schatten der Vergangenheit. Tobias ehrt die Wahrheit – und löst sich aus der systemischen Verstrickung.
Im nächsten Schritt wendet er sich Lena zu und sagt:
„Jetzt bin ich frei für dich – und für das Leben, das durch uns kommen will.“
Fazit: Was nicht betrauert wird, wirkt weiter
Dieses Fallbeispiel zeigt, wie wichtig es ist, auch das lange Verdrängte im Familiensystem zu würdigen. Was nicht gesehen, nicht ausgesprochen und nicht betrauert wird, wirkt weiter – oft in den nachfolgenden Generationen.
Tobias konnte sich erst wirklich auf seine Beziehung einlassen, als er innerlich losließ, was nicht zu ihm gehörte. In der Liebe ist es nicht der Verstand, der heilt – sondern das Anerkennen der tieferen Ordnung.
*Name und Umstände wurden zum Schutz der Privatsphäre verändert.
Spürst du eine ähnliche innere Blockade?
Vielleicht kennst du das Gefühl, dass dich etwas zurückhält – in deiner Beziehung, in der Elternschaft, im Leben selbst. Und du kannst dir nicht erklären, warum.
Eine systemische geistige Aufstellung kann helfen, die verborgenen Bindungen ans Licht zu bringen – und dich wieder in deine eigene Kraft zu führen.
Wenn du den Wunsch hast, dich selbst und deine Beziehung tiefer zu verstehen, begleite ich dich gern ein Stück auf deinem Weg.
👉 Mehr Informationen auf meiner Website oder direkt zur Aufstellungspraxis als Einzelsitzung
Kommentar schreiben