„Etwaige Übereinstimmungen mit tatsächlichen Begebenheiten oder existierenden Personen sind unbeabsichtigt und zufällig.“

Anna (34) sitzt auf dem Stuhl gegenüber und ihr Blick geht ins Leere. Tobias (36) neben ihr, angespannt, mit verschränkten Armen. Zwischen ihnen liegt ein stiller Schmerz – greifbar, unausgesprochen. Sie sind seit sechs Jahren ein Paar, wohnen seit zwei Jahren zusammen. Aber seit einiger Zeit, erzählen sie, scheint etwas zwischen ihnen zu stehen. Etwas Unsichtbares. Etwas, das Nähe verhindert.
„Ich fühle mich wie eingefroren, wenn Tobias mir zu nahekommt“, sagt Anna leise.
„Ich kann dann kaum atmen.“
Tobias schaut zu ihr. „Ich liebe sie. Aber ich komme nicht an sie ran. Es ist, als würde ich gegen eine Glasscheibe reden.“
Was hier wirkt, ist nicht einfach ein „Beziehungsproblem“. Es ist etwas Tieferes. Etwas, das in keiner Kommunikationstrainingsbroschüre steht.
Die stille Last aus der Vergangenheit
Ich frage Anna nach ihrer Herkunftsfamilie. Erst zögert sie, dann sagt sie: „Meine Mutter hatte vor mir schon ein Kind. Einen Sohn. Er starb mit ein paar Monaten am plötzlichen Kindstod. Ich wusste das – irgendwie – aber bei uns wurde nie darüber gesprochen.“
Ich bitte sie, sich innerlich vorzustellen, wie dieser kleine Bruder wieder einen Platz bekommt. Ich sage:
„Vielleicht tragen Sie etwas, das gar nicht zu Ihnen gehört.“
Anna wird still. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie flüstert:
„Ich glaube … ich bin nach ihm gekommen. Und doch fühle ich mich wie vor ihm.“
Die unsichtbare Loyalität
Was Anna unbewusst in sich trägt, ist eine tiefe systemische Verstrickung: Sie hat den Platz ihres verstorbenen Bruders eingenommen – aus Liebe zur Mutter. Sie war das „nächste Kind“ – aber innerlich wurde sie zum „Ersatz“. Und weil das Schicksal ihres Bruders nie betrauert wurde, hat Anna unbewusst die Trauer ihrer Mutter mitgetragen.
Diese stille Loyalität wirkt in ihr weiter – bis in ihre Paarbeziehung hinein.
Sie erlaubt sich nicht, ganz zu leben. Nicht zu lieben. Nicht zu atmen.
Denn irgendwo tief in ihr sagt etwas:
„Wenn ich ganz lebe, verrate ich ihn.“
Systemische Wahrheit: Nähe braucht Ordnung
In einer geistigen Aufstellung gibt Anna dem toten Bruder endlich einen Platz. Sie stellt sich hinter ihn. Ihre Haltung verändert sich. Sie atmet tiefer.
Und sie sagt zu ihm:
„Du bist der Erste. Ich bin die Zweite.
Ich achte dein Schicksal – und lasse es bei dir.
Ich gehe jetzt meinen Weg.“
In diesem Moment geschieht etwas. Kein großes Drama. Keine Tränenflut. Aber eine Bewegung – leise, kraftvoll, heilsam. Anna wird freier. Sie spürt:
„Ich darf lieben – ohne Schuld.“
Der Weg zurück zueinander
Was Tobias in all dem erlebt hat?
Er hat gelernt, dass die Distanz zwischen ihnen nicht gegen ihn gerichtet war.
Sie war Ausdruck einer tiefen Liebe – aber einer fehlgeleiteten, unsichtbaren Liebe in ein vergangenes Schicksal.
Jetzt beginnt etwas Neues. Kein Happy End mit Knall und Feuerwerk. Aber eine vorsichtige, ehrliche Nähe. Ein Raum, in dem Anna atmen darf. Und Tobias nicht mehr draußen bleiben muss.
Systemische Arbeit heilt auf der Beziehungsebene – und weit darüber hinaus
Das, was in dieser Sitzung sichtbar wurde, wirkt weit über das Paar hinaus. Es berührt das ganze Familiensystem. Es bringt Ordnung in das, was aus Liebe verrückt wurde.
Und manchmal braucht es nur einen Satz, der alles verändert.
„Frieden heißt: Es darf gewesen sein.
Abschied heißt: Es war.“
– Bert Hellinger
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